AUGEN AUF UND DURCH
Bremen, Metropol Theater, 28.02.2024
Die NDR Bigband unter Leitung von Jörg Achim Keller mit den »Special Guests«: Schauspielerin Annette Frier,....
Lesen Sie mehrSchon das Wort Unterhaltung ist zweideutig – wie passend für das, was Heinz Erhardt
machte und ausmachte. Kaum ein*e Unterhaltungskünstler*in vor oder nach ihm
beherrschte so perfekt die Feinheiten der komischen und oft auch musikalischen
Kommunikation mit dem Publikum, um es zu amüsieren und zu zerstreuen. Noch heute,
mindestens zwei Generationen nach seinem Tod, vergnügen die Sketche, Filme, Lieder
und wortwitzige Gedichte des »Onkels der Nation«, wie ihn die FAZ nennt, alt und jung.
Als Erhardts Enkeltochter in seinem Nachlass zahlreiche bislang unbekannte Songs und
Sprechgesänge aus seiner Feder entdeckte und anlässlich seines 100. Geburtstags
mithilfe einiger illustrer Fans und der NDR Bigband aufnehmen ließ, war die Freude
allseits groß. Ein gutes Jahrzehnt später folgte das erste und bisher einzige Konzert mit
diesen schelmischen Chansons, natürlich beim NDR, jenem Hamburger Radiosender, bei
dem Heinz Erhardt in den Nachkriegsjahren seine Karriere begann. Mehr als nur begleitet
von der NDR Bigband und mit wunderbaren Arrangements zwischen Swing, Latin und
Soul-Jazz von deren Dirigent Jörg Achim Keller kommt das herrliche Programm unter dem
Motto »Augen auf und durch« jetzt endlich in ganz Deutschland in die Konzerthäuser.
Dass frisch erblühte Evergreens wie ›Fräulein Mabel‹, ›Dann rege dich nicht auf‹ oder
›Agamemnon‹ diesmal vom Hamburger Soul-Star Stefan Gwildis sowie den
Schauspieler*inen Annette Frier, Fritzi Haberlandt und Dietmar Bär interpretiert werden,
spricht für sich – und verspricht beste Unterhaltung, eindeutig zweideutig.
Heinz Erhardt kam 1909 in Riga zur Welt und wurde in den Wirtschaftswunderjahren aus
seiner Wahlheimat Hamburg bald im ganzen Land bekannt und beliebt. Der korpulente
Komiker mit der überkämmten Glatze trug seine dicke Hornbrille angeblich nur zur
Lampenfiebersenkung, nämlich um die vielen Menschen im Publikum nicht ganz so genau
sehen zu müssen. Seine witzigen Wortspiele und verdrehten Redewendungen machten
ihn nichtsdestotrotz übers Radio und auf der Bühne, im Fernsehen, im Kino und auf
Schallplatten zum Erfolgsgaranten. Erhardt dichtete in der Tradition von Kästner,
Morgenstern und Ringelnatz, machte schlüpfrige Scherze und gab dabei meist den
netten, etwas schusseligen und schüchternen Durchschnittsmann – als ›Witwer mit fünf
Töchtern‹, ›Der müde Theodor‹ oder ›Der Haustyrann‹. Damit wurde er nicht nur zum
Prototypen des lebenslustigen Nachkriegsdeutschen, sondern als Poet, »der es sich
selbst und seinen Leser*innen nicht immer leicht gemacht hat, weil er es ihnen zu leicht
machen wollte,« so der Göttinger Germanist Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering, auch
zum erklärten Vorbild für Willy Astor oder Otto Waalkes. Gedichte wie ›Die Made‹ oder
›Warum die Zitronen sauer wurden‹, als Kinderbuch noch für Millenials ein Hit, oder auchDie Schachpartie‹, mittlerweile ein YouTube-Erfolg mit über drei
Millionen Aufrufen, sind so lustig wie zeitlos.
Am Anfang und über allem stand dabei die Musik, immerhin studierte
Heinz Erhardt Klavier und Komposition am Leipziger Konservatorium. »Damit hat er
angefangen,« schreibt seine Enkeltochter Nicola Tyszkiewicz in einem Begleittext zur CD
›Seine Lieder‹, der ersten Veröffentlichung der verschollenen Verse mit Sängern wie
Peter Maffay, Götz Alsmann, Stefan Gwildis, Bill Ramsey, Uwe Ochsenknecht oder Ben
Becker. Und weiter: »Die Musik war seine erste Erfolgsstation. Sie war seine
Herzensangelegenheit.« Anfangs bat die Enkeltochter den Pianisten Vladislav Sendecki,
Träger der polnischen Gloria Artis Medaille und nicht ganz zufällig auch Pianist der NDR
Bigband, die damals noch unbekannten Erhardt-Stücke »einfach mal anzuspielen.«
Daraus wurde über viele Tage ein abendfüllendes Programm »gefiltert«, die Essenz
dieses nachrufenden Kapitels sozusagen, die daraufhin von Jörg Achim Keller arrangiert
wurde. Der damalige Chefdirigent der NDR Bigband hatte schon während des Studiums
für Peter Herbolzheimer, das niederländische Metropole Orkest und Jazz-Stars wie Till
Brönner arrangiert. Inzwischen hat der 55-jährige gebürtige Schweizer zahlreiche Preise
gewonnen und über 2500 Arrangements geschrieben, dazu Film- und Fernsehmusiken
und symphonische Auftragsarbeiten – und eben die schönen Melodien und Texte
arrangiert, die erst bei der Hausauflösung auf dem Dachboden des Erhardtschen
Rotklinkers in Wellingsbüttel gefunden wurden. Als i-Tüpfelchen komponierte Stefan
Gwildis selbst einen Titel zu einem Erhardt-Gedicht. All das und mehr bringt dieses
Programm jetzt auf die Bühnen. Man darf gespannt sein, dabei ganz entspannt und mit
gespitzten Ohren. Und dann bitte, ideal im Zeitgeist: Augen auf und durch.